 
| LyrikbrückenBlinde sind das letzte dialektische Moment in einer perfekten Augenscheingesellschaft (Bernd Kebelmann) |   | 
Die älteste Brückenbaukunst
  benutzt die gewölbte Zunge
  Ein rechtes Wort genügt
  um angstgefüllte Täler zu überwinden
  Der erste falsche Zungenschlag
  zerschlägt die Wege aufeinander zu
(Bernd Kebelmann, 1993)
Bestandsaufnahme im April 2022:
Unser Lyrikbrücken-Projekt ruht seit 2013, den drei  Lesungen im Berliner Kleisthaus.
Auch seine Dichter sind offenbar in die Jahre  gekommen. Leider muss ich an dieser Stelle notieren, dass einige von ihnen,  oder der ihnen nahestehenden
Helfer bereits verstorben sind. 
Ich nenne hier die Namen:
Dr. Pilar Baumeister, im Dezember 2021!
(siehe die Sätze zu ihrem Gedenken und die  Ankündigung zur Kölner Gedenkfeier unten!
Marcel van Male, blinder Dichter aus Antwerpen,  verstarb bereits 2009.
Usw. wie dort steht.
Nun als Anhang quasi die folgenden Texte:
Pilar Baumeister zur Erinnerung
Am Sonntag, dem vierten Advent, dem 19.12.2021,  starb nach kurzer schwerer Krankheit Pilar Baumeister, unsere spanische  Autorenkollegin aus Köln. Pilar ist 1948 in Barcelona blind geboren, in Madrid  zur Blindenschule gegangen und kam mit 27 Jahren, 1975 nach Deutschland, um  hier zu studieren. Ihre ersten Bücher erschienen auf Spanisch. Den Kontakt zum  Geburtsland hielt sie durch Vorträge in Schulen und Kulturzentren von Madrid  und Segovia. Später schrieb sie vor allem auf Deutsch. 
  Pilar liebte, studierte die Sprachen, machte ihren  Abschluss in Deutsch, Englisch und Russisch. Sie promovierte über Die literarische  Gestalt des Blinden in 19. Und 20. Jahrhundert… Sie traf auf viele  Vorurteile und Klischees.
  Trotz ihrer akademischen Ausbildung ist es der  blinden Frau nicht gelungen, in den 1970er Jahren zum Lehramt zugelassen zu  werden. Sie arbeitete bis zur Pensionierung als Fremdsprachensekretärin. 
  Pilar heiratete nach dem Studium einen blinden  Rheinländer, der ihr das Leben lebenswert machte, aber bereits vor einigen  Jahren starb. Für die Spanierin kam noch einmal eine harte Zeit, in der es ihr  gelang, ihre Mobilität zu erhalten, nun ohne Mann und Taxi selbständig  unterwegs zu sein. Diese physische und psychische Leistung im fortgeschrittenen  Alter kann nur ein Blinder ermessen.
  Pilhars Liebe galt von Beginn an der Arbeit mit  der Literatur und mit anderen Autoren. Ich lernte sie kennen, als sie Anfang  der 1990er Jahre blinde und sehbehinderte Autoren auf Tagungen in der Eifel um  sich versammelte. Sie hatte Talent als Organisatorin und lud begabte Dichter  bis aus Dänemark zur Mitarbeit ein. Damals begannen Pilar, der blinde Däne  Svend Pedersen und ich in Dortmund mit dem Lyrikbrücken-Audio-Art-Projekt, das  uns mit Malgorzata Ploszewska als Assistentin und dem polnischen Organisator  Piotr Szczepanski durch Europa führte. Im Lesebuch zu unserem europaweiten  Projekt blinder Dichter ist Pilar in fünf der neun Programme mit eigenen  Gedichten vertreten, in den Hörbüchern hört man ihre klangvolle, dunkle  spanische Stimme.
  Pilar engagierte sich von Beginn an Im VS NRW.  Bald versammelte sie Autorinnen und Autoren mit Migrationshintergrund, deren  Sprecherin wurde sie 1999. Sie organisierte ihr bundesweites Festival der  multikulturellen Literatur NRW, das 2015 erstmals in Köln stattfand. Ihre  vielfachen Aktivitäten ließen Pilar auch als Autorin bald bekannter und  beliebter werden. Ihr letztes Projekt dieser Art gab sie erst in diesem Herbst  aus Krankheitsgründen weiter. 
  Dr. Pilar Baumeister war seit ? Mitglied unserer  Kogge und stellte ihre Arbeit mehrmals in Minden und Himmerod vor. Sie wurde  2018 in den P.E.N. Deutschland gewählt, ein besonderer Ausdruck der Anerkennung  für ihr Wirken im Geist der Literatur und der Völkerverständigung. 2019 kam sie  in den Vs Bundesvorstand.
  Pilar Baumeister schrieb vor allem Gedichte und  zahlreiche Erzählungen, aber auch einen Roman. Sie hat in ihren Werken,  besonders häufig als Lyrikerin versucht, die Sensibilität blinder Autoren,  ihren eigenständigen Zugang zur Welt in immer neue Worte zu fassen. Eines ihrer  berühmt gewordenen Gedichte, und das war typisch für sie, bezieht sich auf  einen scheinbar banalen Alltagsgegenstand, auf den beliebten Kugelschreiber:
Gedanken eines Blinden beim Anfassen eines Kugelschreibers
Etwas Stechendes, was schreibt. 
  sticht aber nicht, berührt nur das Papier und  zittert, 
  geht lange Wege entlang, und dann erhebt es sich, 
  sanft und träumerisch, in der Luft, 
  wo nichts mehr geschrieben wird bis zur nächsten  Berührung 
  mit der heiligen Fläche des Papiers, das alles  abbildet, 
  stumm und bedeutungsarm für mich, und doch  rätselhaft, 
  faszinierend wie Insektenstiche auf meiner Haut, 
  wie Fliegen, die man nicht fangen kann, 
  Buchstaben, die man nicht fühlen kann mit Händen. 
Nach einem entschiedenen Click, wie das Summen der  Fliegen, 
  bewegt sich die Spitze majestätisch und schreibt: 
  Meinen Namen, deinen Namen und die der Freunde in  der Ferne. 
  Ich muß glauben, daß es stimmt, 
  daß der beschriftete Zettel unsere Namen spricht. 
Dieser längliche Gegenstand, aus so vielen Teilen  bestehend, 
  so kompliziert und doch so klein: 
  etwas dünner am Anfang und am Ende und dicker in  der Mitte 
  mit einem Halter an der Seite, in der Mitte nicht  ganz platt 
  wie zweigeteilt durch einen Streifen, und in der  Größe sehr unterschiedlich 
  wie die Gedanken der Schreibenden. 
  Für die Hand gemacht und doch das Ergebnis nur für  die Augen. 
Er hat die lebenslängliche Würde einer  Fremdsprache für mich! 
  Bewegung, Tinte und Energie. 
  Das Phänomen begreife ich, 
  und wenn man auf den obersten Teil dieses  Gegenstandes drückt, 
  und wenn die Spitze das Papier erreicht, 
  dann, dann geschieht es, dann fliegen die Fliegen, 
  und du verwandelst dich in einen Menschen, der  etwas mitteilt. 
Ich liebe das lautlose Schreiben der Sehenden.
  (Pilar Baumeister)
In Gedanken fällt es mir leicht, die vielen guten Begegnungen mit Pilar aus meinen Erinnerungen abzurufen, sie aufzuschreiben fällt mir schwerer, und es würde den Rahmen sprengen. Möge sie jeder von uns, der sie kannte und als Persönlichkeit einmal erlebt hat, nicht so bald vergessen.
Bernd Kebelmann
  Berlin, den 22. Dezember 2021
(es folgt die Ankündigung zur Kölner Gedenkfeier  für Pilar)
  12. April 2022
  Sehr geehrte Damen und Herren!
  Frau Dr. Pilar Baumeister war eine in Köln  lebende, spanische Autorin, die sich sowohl mit ihren Romanen, Essays als auch  Gedichten in Köln, NRW und in
  Madrid einen Namen machte. Als durch Blindheit  gehandicapte Schriftstellerin hat sie zudem viel zur Inklusion behinderter  Autor/innen beigetragen. Sie
  war bewundernswert engagiert, war Leiterin der  Auslandsliterat/innen in NRW und Mitglied im Bundesvorstand des VS. Sie  organisierte unzählige Lesungen
  im Rahmen des VS Köln, im Rahmen des VS NRW, im  Rahmen der städtischen Veranstaltungen für ausländische Schriftsteller/innen,  im Rahmen der fremdwOrte
  und Tertulia Literaria La Ambulante. 
  Der VS Köln, zu dessen Vorstand Pilar Baumeister  ebenfalls gehörte, hat mit ihrem Tod einen großen, schmerzhaften Verlust  erlitten.
  „...Hätte ich eure Stimme nicht,
  dann stünde ich in ausdrucksloser,
  dummer Dunkelheit..."
  (Aus "Eure Stimmen" von Pilar  Baumeister,1948  - 2021)
  Um ihrer zu gedenken, um ihr beeindruckendes Werk  und Engagement zu würdigen, veranstalten wir eine öffentliche Gedenkfeier, zu  der wir Sie herzlich einladen.
  An der Lesung aus Pilar Baumeisters Werken werden  Andrea Karimé, Barbara Maria Kloos, Bassima Khoury,  Dragica Schröder,  Erasmus Schöfer, Hidir Celik/Bonner
  Buchmesse Migration, Irma Schiolashvili, Mischi  Steinbrück, Nicol Goudarzi, Roberto di Bella und Tertulia Literaria La  Ambulante teilnehmen. Besondere
  Würdigungen werden sich auf Pilar Baumeisters  literarische Beschäftigung mit dem "Freitod" von Schriftsteller*innen  sowie auf ihr literarisches und organisatorisches
  Engagement für ausländische und behinderte  Autor*innen beziehen.
  Der Sprecher des VS Köln, Evert Everts, hat Frau  Baumeister unzählige Male zu und von den Mitgliederversammlungen geleitet. Sein  Beitrag wird davon handeln.
  Pilar Baumeisters Schwester, Patricia Andreo, wird  anwesend sein und über die Aufrechterhaltung und Weiterverbreitung von Pilars  Botschaft sprechen.
  Die spanische Sängerin und Autorin Isabel Lipthay  wird im Duo mit Martin Firgau die musikalischen Intermezzi, Akzente und   Atmosphäre gestalten.
  Die Feier findet am Samstag, d. 23. April 2022, um  19h30 im Großen Forum der Alten Feuerwache Köln, Melchiorstraße 3, 50670 Köln  (Nähe Ebertplatz, Sudermannplatz)
  Mit freundlichen Grüßen i. A. Vorstand VS Köln
  Mischi Steinbrück 
Ich nenne hier nur die Namen:
Marcel van Male, blinder Dichter aus Antwerpen, verstarb  bereits 2009.
  Josef Hruby, Kogge-Mitglied und Dichter, Tschechien; er  selbst war nicht blind, aber der Begleiter des blinden Dichters Pawel Dvorak,  Tschechien, der ebenfalls 2009, kurz nach unserer Leipziger Lesung verstarb.
  Rune Torstein Kidde, Dänemark; er verstarb kurz vor  seiner Lesung in Berlin, 2013.
  Andrzei Bartynski, Polen, war mit auf der Lesereise 2005  und verstarb 2017.
  Piotr Szczepanski, Polen; er war bei den Lesereisen 2005  und 2006 unser Koordinator in Polen.
  Da Piotr erst vor wenigen Tagen in Danzig verstorben ist,  folgt hier, stellvertretend für alle Dichter und Mitarbeiter unserer  Lyrikbrücken, die uns bis heute verlassen haben und von denen ich weiß, ein  ausführlicher Nachruf.

Notizen von einer ersten polnisch-deutschen Lyrik-Lesereise, Danzig 2008
1. Das U-Boot-Rennen
Piotr stellt die nächste Runde Danziger  U-Boote vor uns hin, in jedem Glas ein Torpedo,  kirschrot, kirschrund, lecker: Na  zdrowie! Der Chef des Klub „Bolek i Lolek“ in Danzig-Meernähe (Gdańsk-Przymorze)  ist zufrieden mit unserer Lesung, Lyrik auf Polnisch und Deutsch. Piotr spricht  kein Deutsch, wir kein Polnisch. Also verständigen wir uns über Englisch.  Leichter und bequemer klappt es über Maggie, Freundin und Übersetzerin. Sie entwickelt  sich zu einer hochbegabten Synchron-Dolmetscherin.
  Piotr leitet im Haus seinen Klub und eine  Haiku-Werkstatt, organisiert Programme für Lyriker jeden Alters. Wir sitzen im  Hinterzimmer um einen großen Holztisch, Piotr und seine Danziger Freunde, dazu  Ingo und ich, zwei deutsche Autoren aus Bayern und Nordrhein-Westfalen. Die  dritte Deutsche ist Maggie, Lyrikerin aus Süddeutschland, geboren im polnischen  Płock. Piotr ist Lyriker, aber auch Manager, ein Künstler mit Bärenfigur und  einem Kindergemüt. Am Abend hatten wir alle gemeinsam im Klub Gedichte gelesen,  deutsch und polnisch, polnisch und deutsch, Haiku und andere Verse. 
  Ich kenne Piotr seit 2005, als er half, mein Lyrikbrücken-Projekt in Stettin und Danzig  auf die Bühne zu bringen. Die Polen lieben Gedichte. Selbst wir kennen ihre bekannten  Dichter, Adam Mickewicz, Wisława Szymborska. Ingo und ich sind still. Wir verstehen  fast nichts von der Landessprache. Unser Blick geht von Piotr zu Maggie. Sie ist  damit beschäftigt, zwischen Piotr und uns zu vermitteln. Dolmetschen ist eine  Passion von ihr, die sie beglückt und erschöpft. Was wir auf Deutsch zu hören  bekommen, ist oft eine knappe Zusammenfassung der Wendungen, Kraftwörter,  Emotionen, die Piotr schwer übersetzbar in die Runde wirft. Jeder Satz wird von  Maggie gewogen, gefiltert und geglättet. Piotr nickt und lacht. Draußen verhallen  Schritte, polnische Grüße zur Nacht, während Piotr sein Publikum lobt: Die Danziger mögen Lyrik! Viele  verstehen ein bisschen deutsch. Manche Alte sprechen noch etwas Kaschubisch,  die Sprache der Pomoranen, in der sich neben dem Polnischen auch deutsche und  pruzzische Wörter finden. Wer jung ist und trotzdem Deutsch spricht, studiert am  Ort Germanistik. An Danzigs Uni werden wir morgen lesen, im deutschsprachigen Hauptseminar.
  Jetzt kreisen um unsere Köpfe die polnischen  Wörter wie Fliegen. Das Gespräch dreht sich um das Haiku und seine japanischen Wurzeln,  um echte und unechte Dreizeiler, um siebzehn Silben Glück. Piotrs Freunde haben  das Wort. Ingo, von Maggie vermittelt, mischt sich ins Gespräch. Auch er ist  Haiku-Experte. Die Diskussion wird heißer, bis unser Gastgeber uns mit  unmissverständlicher Geste zum nächsten Tauchgang aufruft. Wir lassen die U-Boote fahren und schlucken süße Torpedos. 
2. Deutsch-polnische Geografie
Nach der zweiten gelungenen Lesung ist Piotrs Laune gestiegen. Jetzt wird  er auf einmal ernst, als bereue er seinen Entschluss zu unserer gemeinsamen  Lesereise: Was wisst ihr schon von Polen! Schon meldet sich in unserem Bewusstsein die Großelterngeneration, die den  zweiten Weltkrieg erlebt hat, der auf der Westerplatte mit Beschießung der  Polnischen Post durch den Kreuzer Schleswig-Holstein begann. Schon blitzen aus  der nahen, blinkenden Danziger Bucht, aus unserem tief ins Ostseewasser  getauchten Unterbewusstsein Vorwürfe, offene Fragen herauf, wie durch ein  Periskop.
  Piotr lacht verkniffen und trinkt. Wir lachen  verkniffen und trinken. Maggie, immer und überall um das Gleichgewicht der  Parteien bemüht, moderiert einen Satz, den Freund Piotr launisch hervorstößt: Er wüsste gern, ob ihr hier in Polen immer  noch dabei seid, eure deutschen Wurzeln zu suchen?
  Ich suche nach einer Antwort auf Piotrs  überraschende Frage. Ich krame meine abgegriffene Landkarte Polens hervor,  entfalte sie über den Tisch, Gläser fliegen zur Seite, die U-Boote tauchen ab. Ich tippe mit dem Zeigefinger auf Orte, die mir  geläufig sind. Ich suche und finde die deutschen Namen, spreche laut und falsch  die polnischen aus. Maggie korrigiert mich. Piotr hört misstrauisch zu. Hier  unten, beginne ich, weise auf Hirschberg, po polsku Jelenia Góra, liegen meine  Wurzeln, etwa ein Dutzend davon. Die Familie meiner Mutter stammt aus  Niederschlesien. Mein Vater war echter Preuße, bei Berlin geboren.
  Piotr schnauft und winkt ab. Preußen mag er  nicht, und Schlesien scheint ihm weit weg vom Thema. Mein Finger kriecht näher,  zur Wojewodschaft Poznań: Hier, in  Großpolen, in Waldtal, ein Nest bei Neutomischel, lebten die Eltern von Onkel  Heinz, Schwiegereltern von Tante Hedwig aus Schlesien. Maurer Herrmann, der Vater  des Onkels, zog nach der Jahrhundertwende, nach Neunzehnhundert bereits in die  Hauptstadt. Polnisch oder Deutsch, zur Hauptstadt wollen alle, ob Berlin oder  Warschau. 
  Piotr knurrt und schüttelt die Künstlermähne,  Maggie übersetzt: Ich nicht, ich will  nach New York! 
  Ich lasse mich nicht beirren, überquere südlich  von Danzig die Weichsel und schiebe den Zeigefinger von Masowien nach Masuren. Ich  spüre jenen Reiz, der wohl Generäle befällt, wenn sie durch einen Fingerzeig  Armeen verschieben dürfen … Ich stoppe erst bei Lyck, polnisch Ełk: Aus diesem kleinen Ostpreußenstädtchen zog die  Mutter der Schwiegermutter, Großmutter meiner Frau bis nach Potsdam. Ich  blicke auf Piotr und frage sanft: Von dort  kommst du auch, sagt Maggie. Sie hatte es uns verraten. 
  Piotr ist verblüfft. Er macht ein Gesicht, als misstraue  er der Familie, mit der ich durch Heirat verbunden bin: Die Mutter deiner Schwiegermutter, aus Masuren, sagst du? Wie Siegfried  Lenz, der Dichter, ein neutraler Zeuge. Meine Schwiegermutter ist nicht so  neutral, dem Preußentum eng verbunden, doch das erwähne ich nicht. Maggie fasst  meine Erläuterungen in einem Satz zusammen. Piotr holt tief Luft. Bevor ich auf  Swinemünde tippen, auf Königsberg zugreifen kann, um weitere polnisch-deutsche Verwandtschaftskontakte  zu nennen, beugt sich Piotr über die Karte, tänzelt mit dem Finger zwischen  Wald und Wasser umher, weist auf Nikolaiken, ein ostmasurisches Städtchen, auf Polnisch  Mikołajki: Und das ist meine polnische  Heimat, jawohl, Herr Kommandante!
  Piotr steht auf und belädt seine Flotte mit frischen  Kirsch-Torpedos. Ich nicke dazu. Wir  trinken. Es scheint, wir haben den Ton gefunden, der die Situation entspannt. Also  bleibt mir nichts anderes übrig, ich befördere unseren Manager, Lyriker und  Freund Piotr zum ersten Offizier. 
3. Polnischer Geschichtsunterricht
Das Beste an Piotrs Attacke ist unser gemeinsames Thema. Weitere  Gespräche, von Maggie klug vermittelt, werden die launisch beschworene, ernste  Vergangenheit zwischen uns hoffentlich erhellen. Vielleicht knüpft sich dabei mit  der Zeit ein Beziehungsnetz zwischen Deutschen und Polen, knotig und brüchig, doch  es überspannt drei miteinander verwachsene, mit Narben übersäte, lebende Generationen.  Wir hoffen alle gemeinsam, es hält unsere Freundschaft aus. 
  In jedem von uns schlägt ein Herz, meint Piotr.  Er strafft sich und beginnt zu singen, halb im Scherz, halb im Ernst, aber laut.  Piotr singt die polnische Hymne, an General Dąbrowski gerichtet, mitgebracht  aus Italien: 
  Noch ist Polen  nicht verloren, solange wir leben. 
  Was uns fremde  Übermacht nahm, werden wir uns mit dem Säbel zurückholen. 
  Marsch,  marsch, Dąbrowski… 
  Maggie lächelt und kapituliert. Das muss sie  nicht übersetzen. Wir nicken, sie soll sich schonen. Piotr nimmt Haltung an,  salutiert. Dann mimt er, weil ihm so ist, den Clown: Jawohl, Herr Kommandante!
  Wir gehen hinaus, brauchen frische Luft. Wartet, ruft Maggie uns nach, Piotr will euch etwas zeigen! Ihr kennt doch Adam Mickiewicz? Der Aufstand  gegen die Russen, 1830, gegen Zar Alexander III. Damals waren sich Deutsche und  Polen einig. 
  Piotr steht vor uns und balanciert drei U-Boot-Gläser übereinander. Er lässt sie  plötzlich fallen und fängt sie in der Luft wieder auf. Eine Zirkusnummer. 
  Und die alten Formen stürzen ein, zitiert er Adam  Mickiewicz aus seiner ‚Ode an die Jugend‘.
  Für heute ist  Schluss, meint Maggie und gähnt. Gute Nacht auch, sagt Piotr und gähnt zurück.
4. Im Stadtpark von Danzig-Oliwa
Ingo und ich gingen gern bis zur Ostsee. Aber es ist zu weit. Ingo bestaunt den Mond, der riesengroß und rund, nach Art Caspar David Friedrichs aufgeht. Hinter uns stehen die hohen Gebäude des Zisterzienserklosters. Ich weiß einiges über die lange Geschichte zwischen den Deutschen und Polen. Ich habe nachgelesen, das Thema ist viel zu groß. Wir sind eine kleine Künstlergemeinschaft, selten in ihrer Art. Ingo, der Bayer, Maggie, die Schwäbin aus Polen, ich als Preuße mit schlesischem Herzen. Später, auf weiteren Reisen kommen andere, deutsche und polnische Autorinnen fröhlich hinzu. Niemand benimmt sich falsch. Und doch gibt es zwischen denen, die im Westen von Deutschland leben und unseren Freunden aus Danzig eine winzige Kluft. Sie ist Jahrhunderte tief, und sie droht, mit jedem deutsch-polnischen Missverständnis von neuem aufzubrechen.
5. November 2020: Piotrs Arbeit ruht
Dank Maggies starkem Gleichgewichtssinn verliefen die Tage und Abende der  ersten Reise friedlich. Und so würde es bleiben. Alle Lesereisen, die folgen  würden, haben unsere Freundschaft vertieft, die Kenntnis von Land und Leuten  erweitert. Sie sind stets erfolgreich geendet.
  Piotr war viele Jahre lang für uns und  zahllose andere Projekte als Kulturmanager tätig. So hat er bereits seit 2005  durch Vermittlung von Maggie an meinem europaweiten Projekt blinder Lyriker mitgewirkt.  Für die Lyrikbrücken war er der polnische Koordinator. Daraus und aus  der Kogge-Arbeit entwickelte sich die Lyrikergruppe QuadArt. Für QuadArt  organisierte Piotr sechs Jahre lang Lesereisen in Polen. In den letzten Jahren  stand ihm die Danziger Dichterin Gabriela Szubstarska dabei zur Seite. Zwischen  Warschau und Danzig fuhren wir, meist entlang der Weichsel, zu zweisprachigen Lyrikabenden  mit Musik in Kulturhäusern, Kirchen und Museen. Wir fanden immer wieder ein  staunendes Publikum vor. Mehrere Kogge-AutorInnen und die Cellistin Gunilda  Wörner beteiligten sich daran. Alle nutzten wir die Gelegenheit, das Nachbarland  kennenzulernen.
  Noch etwas ist uns gelungen: Durch Vermittlung  von Małgorzata Płoszewska, Mitarbeit von Gabriela Szubstarska, Bernd Kebelmann,  Barbara Zeizinger und Ursula Teicher-Maier, durch Unterstützung des Kogge-Geschäftsführers  Friedrich-Wilhelm Steffen wurde es möglich, unser Mitglied Piotr Szczepański auch  in Deutschland am literarischen Leben der Kogge zu beteiligen.
Aus der Fülle seiner umfangreichen lyrischen und organisatorischen Arbeit wurde Piotr plötzlich herausgerissen. Er starb überraschend am 23. November 2020 in Danzig, im Alter von 66 Jahren. Unser Freund war nach Jahrzehnten in Danzig zu einer bekannten, geachteten und umstrittenen Künstlerpersönlichkeit avanciert. Presse und Radio der Stadt berichteten über den toten Dichter. Die Stadtpräsidentin, der Stadtrat würdigten seine Arbeit, Hunderte von Freunden erstatteten ihr Beileid. Was wir den Danziger Stadtrat und seinen Freunden von hier aus sagen möchten: Das Verdienst von Piotr Szczepański für die langjährige Zusammenarbeit von Dichtern aus Polen und Deutschland ist nicht hoch genug einzuschätzen. Wir werden unseren Dichterfreund lange und schmerzhaft vermissen.
Ich freue mich über Lob, Anregung und Kritik. Wenn Sie Lust haben, schreiben Sie mir oder rufen Sie mich an.
  
  
  
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Ich bedanke mich für Ihr Interesse
Bernd Kebelmann